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Cervo, Beyond Culture

The Cabin Essence - Artists in Residence - Erfahrungsbericht von Velia De Iuliis

06.11.2025

Es ist nun schon einige Wochen her, dass ich von meinem Aufenthalt im CERVO nach Los Angeles zurückgekehrt bin, und endlich habe ich Zeit gefunden, über die tiefgreifenden Erfahrungen nachzudenken, die ich dort gemacht habe. Manche Orte offenbaren ihre Bedeutung erst, wenn man sie verlassen hat – ihr Rhythmus, ihre Atmosphäre und ihr Einfluss entfalten sich langsam mit zunehmender Entfernung. Meine Zeit in Zermatt war genau das: ein allmähliches Erwachen für den Ort, das Tempo und die Inspiration.

Meine Einführung in CERVO begann mit LOVE BEYOND, einem Wochenendtreffen von Gleichgesinnten, die sich mit Vorträgen, Wellness-Praktiken und kreativen sowie naturbezogenen Aktivitäten beschäftigten. Die Durchführung eines Kunstworkshops auf einer Almwiese, umgeben von schneebedeckten Gipfeln und einem ruhigen Bach, war ein surrealer Beginn meiner Residency.

Nachdem ich mich in dem Raum eingerichtet hatte, der für die nächsten drei Wochen mein Zuhause und mein Atelier sein würde, packte ich meinen Koffer aus, der mit rohen Leinwänden, Pigmenten, Pinseln und Kohle gefüllt war – den Werkzeugen für alles, was entstehen könnte. Ich war bewusst ohne festen Plan angereist und hatte mich stattdessen dafür entschieden, mich von der Umgebung leiten zu lassen. Es war eine befreiende, aber auch nervenaufreibende Entscheidung.

In diesen ersten Tagen widerstand ich dem Drang, Kunstwerke zu schaffen. Stattdessen wanderte ich auf langen Routen durch die Berge, was mir half, mich sowohl körperlich als auch geistig zu erholen und zu akklimatisieren.

Ausserdem entwickelte ich ein Morgenritual: Eingehüllt in eine Bettdecke und mit einer Tasse Kaffee auf dem Balkon sitzend, beobachtete ich den Sonnenaufgang über dem Matterhorn. Es war ein aussergewöhnliches Erlebnis, den Übergang von der Dunkelheit zur Morgendämmerung zu beobachten, wobei sich dieser Anblick nie wiederholte. Mein Zimmer, hoch über dem Tal gelegen und von Glas umgeben, fühlte sich eher wie ein Baumhaus als wie eine Hotelsuite an. Es wurde sowohl zu einem Atelier als auch zu einem Rückzugsort, einem Ort, an dem ich gleichermassen nach aussen und nach innen blicken konnte. 

Durch diesen Rhythmus und mein Morgenritual, den Sonnenaufgang zu beobachten, entstand mein erstes Projekt, Color Swatch Diary. Auf ein langes Stück roher Leinwand klebte ich ein Raster aus fünf Quadraten horizontal und einundzwanzig vertikal – eine Reihe für jeden Tag meines Aufenthalts. Jeden Morgen fotografierte ich dieselbe Bergkette des Matterhorns und destillierte die fünf auffälligsten Farben dieses Augenblicks. Diese wurden zur Palette für die Reihe des jeweiligen Tages. Was als spielerische Übung begann, entwickelte sich zu einem meiner Lieblingswerke – einer stillen, visuellen Aufzeichnung von Zeit und Ort.

Parallel dazu begann ich, Studien von einheimischen Alpenblumen mit Gouache auf roher Leinwand zu malen. Einige dieser Arten begegnete ich auf meinen Wanderungen, andere entdeckte ich in botanischen Archiven. Das Malen der Flora dieser Region ermöglichte es mir, durch die Linse der Natur eine tiefere Verbindung zu Zermatt aufzubauen. Dennoch fand ich erst in der zweiten Hälfte meines Aufenthalts meinen wahren Rhythmus und meinen kreativen Flow.

Während des LOVE BEYOND-Workshops demonstrierte ich, wie man locker mit Kohle arbeitet, und skizzierte eine spontane Berglandschaft. Die gestische Qualität des Mediums fühlte sich frisch und befreiend an, und ich wusste, dass ich in meiner eigenen Arbeit zu diesem Gefühl der Unmittelbarkeit zurückkehren wollte.

Zurück in meinem Zimmer riss ich die übrig gebliebene Leinwand in grosse Rechtecke und klebte sie an die Wände und Schiebetüren. Mit Musik im Hintergrund und den Bergen direkt hinter dem Fenster begann ich mit meiner Lieblingsserie: ausdrucksstarke Blumenbilder, die die endemische Schweizer Alpenflora mit kalifornischen Baum-Mohnblumen verschmolzen. Die Einbeziehung kalifornischer Pflanzen in die Blumenwelt war meine Art, mich selbst in dieser Landschaft darzustellen. Am Ende des Aufenthalts hatte sich mein Raum in eine lebendige Galeriewand verwandelt.

Der Übergang vom Hoch- zum Spätherbst war eine Performance für sich. Vom ersten Schneefall, noch während die Bäume ihre Farbe behielten. Diese Verwandlung jeden Morgen von meinem Balkon aus zu beobachten, fühlte sich wie ein seltenes Privileg an. 

Während meines Aufenthalts habe ich täglich Tagebuch geführt. Einige Einträge handeln vom Schaffensprozess, andere von kleineren Momenten: von der Qualität des Morgenlichts bis hin zur Atmosphäre beim Frühstück. Wenn ich diese Seiten heute wieder lese, kann ich jedes Detail, das diese Zeit so bedeutungsvoll gemacht hat, noch einmal erleben.

Als ich Zermatt verliess und die Berge durch das Zugfenster an mir vorbeiziehen sah, nahm ich nicht nur eine Sammlung von Skizzen und Ideen mit, sondern auch eine neue Begeisterung für die bevorstehende Arbeit im Atelier. Die Werke, die ich im CERVO geschaffen habe, fühlen sich wie der Beginn eines fortwährenden Dialogs an: zwischen Bewegung und Stille, Intuition und Struktur.

Dafür und für jeden Sonnenaufgang, jeden Schneefall und jedes freundliche Wort der Mitarbeiter bin ich unendlich dankbar.

Bis zum nächsten Mal, CERVO.

Danke schön,

Velia De Iuliis

www.cervo.swiss
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